Interessantes & Amüsantes

Seidlhofer-Bruno-02
Bruno Seidlhofer

Nelson Freire, Br. Seidlhofer, Hans Graf, Alfred Brendel, Friedrich Gulda, Heinz Medjmorez, Jaques Klein, Geza Anda

Rudolf Buchbinder gehört zu den herausragenden Interpreten der Seidlhofer Schule. Auch Friedrich Gulda, Dieter Weber, Jaques Klein, Martha Argerich, Nelson Freire, Alfred Brendel uva lebende und verstorbene Künstler begründeten Seidlhofers legendären Ruf.

Tips wie man auffrischt, was man einmal konnte (in English):

http://www.interlude.hk/front/old-friends-reviving-old-repertoire/

Heinz Erhardt: Der Tastenhengst

O eminenter Tastenhengst,
der du der Töne Schlachten lenkst
und sie mit jeder Hand für sich
zum Siege führst, dich preise ich!

Du bist ein gottgesandter Streiter,
ein Heros, ein Akkordarbeiter.
Im Schweiße deiner flinken Finger
drückst du auf jene langen Dinger,
die man gewöhnlich Tasten nennt,
und die, grad wie beim Schach getrennt
in Schwarz und Weiß ihr Dasein fristen,
als Requisit des Pianisten.
Doch nicht nur deiner Finger Schwielen
brauchst du zum Greifen und zum Spielen,
nein, was man meistens gar nicht glaubt:
du brauchst dazu sogar dein Haupt!
Mal fällt’s, als ob du schlafen mußt,
auf deine stark erregte Brust,
mal fällts mit furchtbar irrem Blick,
so weit es irgend geht, zurück,
und kommst du gänzlich in Ekstase,
hängt dir ein Tropfen in der Nase.
Und hast du endlich ausgerast,
sagt sich der Hörer: Liszt – not last!

O eminenter Tastenhengst,
der du der Töne Schlachten lenkst
und sie mit jeder Hand für sich
zum Siege führst, dich preise ich!
Und jeder Hörer merkt alsbald:

du siegst mit Liszt, nicht mit Gewalt!

Am 23.01.2016, 12:10, „Günter Hamann“ <guenter.hamann@icloud.com> schrieb:
Vom besonderen Klang

Das Gesicht der Wiener Philharmoniker, Vorstand Clemens Hellsberg, räumt den Platz des Primgeigers

VON HERBERT LACKNER

VON HERBERT LACKNERNoch einmal also die Eroica im Musikverein, dann Wagners Ring in der Staatsoper und Ende des Monats Die Zauberflöte. Das war’s. Am 1. Februar tritt Clemens Hellsberg, im März wird er 64 Jahre alt, in den Ruhestand. Er geht »in die Rent’n«, wie man in Wien sagt.40 Jahre lang war er im Orchester der Wiener Staatsoper und bei den Philharmonikern Primgeiger, 17 Jahre lang Vorstand des selbstverwalteten Orchesters. Er war das Gesicht des hoch angesehenen Klangkörpers. In seine Ära fällt auch eine entscheidende Auseinandersetzung, die wenig mit Musik, dafür aber viel mit Verantwortung zu tun hat: Erstmals konfrontierten sich die Musiker mit der Rolle, welche die Philharmoniker in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hatten. Hellsberg war 22 Jahre alt, als er unter Karl Böhm debütierte, dann folgte er dem Dirigat aller Großen dieser Zunft.

Jetzt ist das also bald vorbei, dennoch sitzt der Geiger vergnügt in der Kantine der Wiener Oper, wo sich allerlei Herrschaften aus Verdis Un ballo in maschera in voller Montur erfrischen. Trotz dieses herrlichen Trubels erweckt Hellsberg den Eindruck, als würde ihm das alles künftig nicht fehlen: diese Atmosphäre des Künstlerlebens, die bejubelten Neujahrskonzerte, die spektakulären Premieren am Ring, diese wunderbaren Sonntagvormittage im Musikverein, das dankbare Publikum auf den großen Tourneen, das solche berühmten Orchester ja nicht alle Tage zu hören bekommt. Als er sich im Vorjahr bei einem Sturz den Ellbogen zertrümmerte, rief ihn sogar der besorgte Bundespräsident im Krankenhaus an.Clemens Hellsberg ist vielleicht auch nur deshalb vergnügt, weil er immer vergnügt ist, wenn er über Musik spricht. Die Geige lege er ja nicht aus der Hand, in Zukunft werde er eben mehr Kammermusik spielen und das noch dazu mit seinen Söhnen, dem 33-jährigen Dominik, der schon seit neun Jahren bei den zweiten Geigen der Philharmoniker musiziert, und dem 21-jährigen Benedikt, der noch das Cellospiel studiert. Im April ist Clemens Hellsberg dann ja noch einmal auf der großen Bühne, wenn sein Freund Zubin Mehta seinen 80. Geburtstag mit Beethoven im Wiener Musikverein feiert.»Warum soll ich wehmütig sein? Ich habe mit den Philharmonikern so viel erlebt, da wäre Traurigkeit nicht angebracht«, sagt Hellsberg. Aber er zählt mit: Noch genau neun Opernabende hat er vor sich, bevor er seinen Spind räumen muss. Der Abschied von der Oper fällt ihm schwer. Das Spiel im Orchestergraben, dieses Eingehen auf die Sänger, das Aufeinanderhören – das hält Hellsberg für eine entscheidende Grundlage jedes Orchesters. Bei den Wiener Philharmonikern kämen zwei weitere Besonderheiten hinzu. Zum einen hätten viele Ensemblemitglieder der einzelnen Instrumentengruppen denselben Lehrer gehabt. In seinem Fall war das der damals noch junge, aber schon gefeierte Primgeiger Alfred Staar. Hellsberg Sohn Dominik war einer der letzten Schüler dieses Violine-Professors. Zum anderen seien bei den Wiener Philharmonikern Instrumente vertreten, die es in anderen Orchestern nicht gibt, etwa das Wiener Horn und die Wiener Oboe, zwei aus der Wiener Klassik hergeleitete Spezialinstrumente mit etwas hellerem Ton. Die Kombination aus all diesen Faktoren mache den viel gerühmten »Klang« der Wiener Philharmonie aus, meint Hellsberg.Schwer vorstellbar, dass dieser feinsinnige Sohn eines Musiklehrers mit eher schmalem Körperbau seine Wehrdienstzeit beim Jagdkommando des Bundesheers verbracht hat, einer wilden Rangertruppe, die für tollkühne Sondereinsätze trainiert. Wenn er schon zum Bundesheer gehen musste – Zivildienst gab es für seinen Jahrgang 1952 noch nicht –, dann wollte er wenigstens etwas erleben, das er auf seiner vorgezeichneten Musikerlaufbahn sicher nie mehr erleben würde. Also sprang er an Fallschirmen baumelnd aus Flugzeugen, übte Kampftauchen und pirschte durch Österreichs wilde Bergwelt.Die Hälfte der Wiener Philharmoniker besaß in der NS-Zeit eine ParteimitgliedschaftWeil das nicht genügte und ihm offenbar auch die Violine zu wenig war, studierte Hellsberg nebenher Musikwissenschaften und Alte Geschichte. Seine Dissertation schrieb er über den Violinisten Ignaz Schuppanzigh, einen engen Musikerfreund Ludwig van Beethovens. Als Hellsberg 1980 an der Wiener Universität zum Dr. phil. promoviert wurde, strich und zupfte er selbst schon seit Jahren die Violine bei den Philharmonikern. Und weil er Geschichte studiert hatte, machten ihn die Kollegen zum Leiter ihres historischen Archivs. Dann fasste Hellsberg 1991 einen Entschluss, der sein weiteres Berufsleben nachhaltig beeinflussen sollte: Auf der Basis der im Orchesterarchiv gesichteten Unterlagen schrieb er eine 685 Seiten starke Geschichte der Wiener Philharmoniker (Die Demokratie der Könige), in der erstmals untersucht wurde, wie sich die hilharmoniker in der Zeit der NS-Diktatur verhalten hatten.

Zwischenbilanz

Erfolge2004 Open AirDie Sommernachtskonzerte in Schönbrunn sind ein neuer Fixtermin im Jahr der Philharmoniker. Ihr Zustandekommen ist kurios. 1998 hatte das Staatsopernorchester als Gegenleistung für eine Gagenerhöhung der Republik eine Serie von Gratiskonzerten zugesagt. Das letzte Konzert dieser Serie wurde im Hof von Schloss Schönbrunn angesetzt. Seither veranstalten die Philharmoniker die Sommernachtskonzerte auf eigene Rechnung.Sehen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker von 2013; unter der Leitung von Lorin Maazel spielen sie »Wiener Blut«2008 Sponsor»Begegnung mit einem Mythos« nennt Hellsberg in seinem neuen Buch die Sponsorenverhandlungen mit der Schweizer Uhrenfirma Rolex, der führenden Marke im Luxusuhren-Segment. Im Februar 2008 wurde der erste Vierjahresvertrag abgeschlossen, der seither erneuert wurde. Rolex hatte zuvor etwa Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, Tiefseetaucher Jacques Piccard und den Rekordpiloten Chuck Yeager unterstützt. Musiksponsoring war für die Schweizer Neuland2013 GesundheitVor zwei Jahre stürzte der Geiger auf dem Weg von seiner Wohnung zur Straßenbahn und zertrümmerte sich den linken Ellenbogen. Ärztliche Kunst und ausgeklügelte Physiotherapie sorgten dafür, dass Hellsberg wieder spielen kann. Den Arm ausstrecken kann er allerdings bis heute nicht.Misserfolge1992 VergangenheitIn seinem Buch »Die Demokratie der Könige« über die Geschichte der Wiener Philharmoniker beleuchtete Clemens Hellsberg erstmals auch die Rolle des Star-Orchesters in der NS-Zeit. Die Hoffnung, dass damit alles gesagt sei, erfüllte sich nicht. Nach und nach tauchten weitere Fakten auf – bis heute. Kritiker werfen Hellsberg vor, er habe unangenehme Dinge verschwiegen, was dieser heftig dementiert2014 AbschiedHellsberg wäre wohl noch gerne länger Vorstand des renommierten Orchesters geblieben, wollte aber eine Verlängerung der »Amtsperiode« von drei auf sechs Jahre, um einige größere Projekte durchzuführen. Das wurde nicht akzeptiert. Eine Kampfabstimmung gab es jedoch nicht.

Das war nicht ruhmreich: 50 Prozent der Musiker waren NSDAP-Mitglieder gewesen (Berliner Philharmoniker: 15 Prozent). Sieben Orchestermitglieder wurden ermordet oder starben aufgrund der Verfolgung. Neun gelang die Flucht ins Ausland. Die Nazis machten den Kontrabassisten Wilhelm Jerger zum Orchestervorstand. Der war seit 1932 illegales NSDAP-Mitglied und SS-Mann. 1945 wurde er aus dem Orchester ausgeschlossen. Später war er Leiter des Bruckner-Konservatoriums des Landes Oberösterreich. Noch bemerkenswerter ist der Fall des Trompeters Helmut Wobisch, der schon am NS-Putsch im Juli 1934 teilgenommen hatte. Wobisch leitete die Bläserausbildung der Wiener Hitlerjugend und bespitzelte im Auftrag der Gestapo andere Orchestermitglieder. Nach 1945 suspendiert, kehrte er schon 1950 wieder ins Orchester zurück und wurde 1953 sogar Geschäftsführer. Die statutengemäß dafür notwendige Befreiung von den Sühnefolgen durch den Bundespräsidenten wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – Wobisch gerierte sich als »Judenretter« – ganz presto eingeholt. 1969 gründete er den Carinthischen Sommer, dessen Intendant er bis zu seinem Tod 1980 war. Mit der Kärntner SPÖ verstand sich Wobisch prächtig.Als Hellsberg 1992 sein Buch veröffentlichte, hatte die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich gerade erst begonnen, der Fall Waldheim war der entscheidende Anstoß dafür gewesen. Wenn danach neue Details über das Orchester in der NS-Zeit auftauchten, wurde Hellsberg stets vorgeworfen, er habe diese in seinem Buch verheimlichen wollen. Aber das sei falsch, beteuert der Autor: »Damals gab es noch keine Provenienzforschung und auch kein Internet. Natürlich haben wir viele Sachen einfach nicht gewusst.«Erst 2011 etwa trug Zeitgeschichte-Professor Oliver Rathkolb bisher unbekanntes Material über die von den Nazis ermordeten und vertriebenen Orchestermitglieder zusammen. Hellsberg, damals noch Vorstand der Philharmoniker, beauftragte daraufhin eine vierköpfige Historikergruppe unter der Leitung von Rathkolb damit, die Dokumente für die Website des Orchesters aufzubereiten. Diese liest sich heute wie ein zeithistorisches Seminar: Kaum eine andere Institution des Landes hat Dutzende von Seiten im Internet ihrer NS-Vergangenheit gewidmet. Einer der von Hellsberg eingesetzten Experten, der Historiker Fritz Trümpi, schreibt in seinem Beitrag, es habe in Wahrheit schon am 1. Jänner 1939 ein Walzerkonzert der Philharmoniker gegeben. Die Behauptung, ihr jüngstes Neujahrskonzert sei das Siebzigste gewesen, sei daher falsch. Der Topos Musikstadt Wien habe »der Etablierung und Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Wien gedient«, so Trümpi.Eine Theorie, über die man streiten kann: Haben die Philharmoniker durch das Spielen von Walzermusik dem NS-Regime geholfen oder vielleicht doch eher ein Stück Österreich in diese neue Zeit hinübergerettet? Oder haben sie einfach nur Musik gemacht? Erwartungsgemäß griff der ehemalige Staatsoperndirektor Ioan Holender den von Trümpi hochgegaberlten Ball auf. »Es hilft nichts, Geschehenes zu verschweigen«, donnerte der ehemalige Bariton rechtzeitig vor dem diesjährigen Neujahrskonzert in einem Interview. Zuvor hatte er gemurrt, er habe von Hellsberg »nie einen positiven Willen« gespürt, »ohne Zwang Licht in die Vergangenheit der Philharmoniker zu bringen«.Zu behaupten, Holender sei mit seinem Staatsopernorchester, also mit den Philharmonikern und vor allem dessen Vorstand Clemens Hellsberg, nicht zurechtgekommen, ist eine lächerliche Untertreibung. In dieser Beziehung war nie Musik, und am Ende ging einfach gar nichts mehr.Hellsberg will den Inhalt der Kritik nicht verstehen: »Warum ist man überrascht, dass sich ein totalitärer Staat aller seiner Einrichtungen bedient hat? Das sagt ja schon das Wort totalitär.« Überdies hätten die Philharmoniker bereits Walzer gespielt, als von den Nazis noch lange keine Rede war.Würde Hellsberg wegen der Kritik Holenders des Trostes bedürfen, dann wäre die ihm vor drei Jahren von der Israelitischen Kultusgemeinde verliehene Torberg-Medaille ein Übermaß davon. Die Laudatio hielt damals Zubin Mehta.Nur Lobendes weiß auch Holenders Nachfolger Dominique Meyer über den scheidenden Primgeiger seines Opernorchesters zu sagen: »Wir waren von Beginn an Freunde, und ich habe in der Zusammenarbeit mit ihm nur Freude erlebt. Mir haben auch seine Reden gefallen.«Mit Anton Bruckners 8. Symphonie stürzte er sich in Gedanken die Streif hinunterHellsberg schreckte tatsächlich selbst vor tollkühnen rhetorischen Abenteuern nicht zurück. Beim vorjährigen Hahnenkammrennen lud ihn der Ski Club Kitzbühel zu einer Festrede ein. Hellsberg (»Ich war nie ein guter Skiläufer«) verglich darin jeden Streckenabschnitt der Streif mit den Sätzen in Anton Bruckners anstrengender 8. Symphonie: das Fahrtwegnehmen, das Schwungausnützen, den Kampf um Hundertstelsekunden da, um Millimeter auf der Violinsaite dort. Bloß gegen Ende sei es anders: Der Skiläufer sei an der Hausbergkante erschöpft, ihm sei alles abverlangt worden. »Aber wenn der Musiker nach eineinhalb Stunden Bruckner bei der Coda angelangt ist, da gibt es keine Müdigkeit, dann wird man von dieser schönsten Musik ebenso ins Ziel getragen wie von der eigenen Begeisterung.«Ein derart Begeisterter lässt jetzt einfach los? Loslassen hat er kürzlich jedenfalls geübt. Um noch einmal die Silvester-Fledermaus in seiner geliebten Oper spielen zu können, ersuchte er um Entbindung vom Höhepunkt im Philharmoniker-Jahr: vom Neujahrskonzert.Fotos: Gianmaria Gava für DIE ZEIT

„Günter Hamann“ <guenter.hamann@icloud.com>schrieb:
»Man spielt jeden Tag anders«

Grigory Sokolov ist der große Anti-Star der internationalen Klavierszene: Keine Allüren, keine Studioaufnahmen – und keine Interviews. Hier spricht er nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder. Und zwar nicht über seine neue CD, sondern über Emil Gilels, den russischen Meisterpianisten, der im Oktober hundert Jahre alt geworden wäre

VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

DAS GESPRÄCH FÜHRTE CHRISTINE LEMKE-MATWEY Vor dem Künstlerzimmer im Berner Kultur- Casino nach einem Klavierabend Ende November. Grigory Sokolov hat Schubert und Chopin gespielt, »Moments musicaux«, »Nocturnes«, zwei Sonaten. Eine Schlange ringelt sich bis ins Treppenhaus hinaus, Fans halten Blumen und Programmhefte in den Händen. Drei Frauen balancieren einen etwa 30 Zentimeter hohen Flügel aus feiner Schweizer Schokolade. Sokolov, der Unnahbare, scheint auch nahbare Seiten zu besitzen. Es ist nach 23 Uhr, als ich eintrete.DIE ZEIT: Ich habe ziemliches Lampenfieber, Herr Sokolov, ich hoffe das legt sich. Grigory Sokolov: Sie? Jetzt?ZEIT: Nach dem Konzert ist vor dem Interview.Sokolov: Wir beide haben eine schwierige Aufgabe. Wir wollen über Emil Gilels sprechen, eine große Persönlichkeit. Das ist Nummer eins. Nummer zwei: Wenn Herr A über Herrn B spricht, dann spricht er nicht über Herrn B, sondern über Herrn A, also über sich selbst. Das ist das Schlimmste, das müssen wir vermeiden. (lacht)ZEIT: Ich würde gern über Sie sprechen, schließlich gibt es da einen gewissen Nachholbedarf. Sie haben seit vielen Jahren kein Interview mehr gegeben.

Grigory Sokolov
wird 1950 in St. Petersburg geboren, beginnt mit fünf Jahren Klavier zu spielen. Als 16-Jähriger gewinnt er den Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb. Seither bereist er die Welt. Heute tritt er nur noch als Solist auf und gibt rund 70 Konzerte pro Jahr

Sokolov: Auch jetzt gebe ich keins. Wir haben eine Verabredung, nicht wahr?

ZEIT: Aber wie wollen wir es schaffen, über irgendetwas zu sprechen, über Gilels, Schokolade oder die Weltpolitik, ohne über Sie zu sprechen?

Sokolov: Versuchen Sie es! Unsere Verabredung besteht darin, dass Grigory Sokolov sich ausschließlich zu Emil Gilels äußern möchte, seinem Landsmann und Vorbild. Ausgerechnet Gilels! Sokolov ist Artist, eine Spielernatur mit pathologischem Tiefgang – Gilels’ Zauber hingegen speist sich aus seiner Ehrlichkeit, doppelte Böden oder Ironie kennt er nicht. Konträrer können zwei Pianistenprofile kaum sein.

ZEIT: Emil Gilels wirkte auf der Bühne immer absolut geerdet. Vor seinen Auftritten aber soll er ein Nervenbündel gewesen sein.

Sokolov: Das ist normal.

ZEIT: Sind Sie auch aufgeregt, nervös?

Sokolov: Wir wollen nicht über mich sprechen, und das ist Ihre zweite Frage? (lacht) Lampenfieber zu haben, ist ganz normal. Wichtig ist, dass das Publikum es nicht bemerkt.

ZEIT: Wer war Emil Gilels für Sie?

Sokolov: Nicht für mich, für alle! Eine große Persönlichkeit, ein großer Musiker. Und auch ein großer Mensch. Das fällt nicht oft zusammen. Seit meinem siebten Lebensjahr habe ich Emil Gilels regelmäßig in der Philharmonie in St. Petersburg, damals noch Leningrad, gehört. Alle Konzerte, alle. Manchmal kam er einmal im Jahr, manchmal mehrmals. So war das. Die Einsilbigkeit vieler Antworten provoziert hastiges Nachfragen. Es ist schwer, Grigory Sokolovs freundlich-skeptischem Blick schweigend standzuhalten. Außerdem sitzt, rein zufällig, Felix Gottlieb mit am Tisch, der Gilels-Schüler und Gründer des Freiburger Emil-Gilels-Festivals.

Für echte Kunst gibt es keine Zeit und keine Grenzen. Und keine Geografie

ZEIT: Die Tradition russischer Pianisten ist Legende, von Heinrich Neuhaus bis Wladimir Horowitz, von Sergej Rachmaninow bis Anton Rubinstein. Wo steht Emil Gilels in dieser Tradition?

Sokolov: Er ist kein russisches Phänomen, sondern ein Weltphänomen. Diese Gipfel sind so hoch (zeigt mit der Hand nach oben), wie soll man sie je ermessen? Nehmen Sie das Gilels-Festival in Freiburg. Im Publikum werden nicht viele Menschen sitzen, die sich noch an seine Konzerte erinnern können. Für die Pianisten, die dort spielen, ist es eine Hommage an ihn. Gilels selbst aber ist nur ein einziges Mal in Freiburg aufgetreten, so weit ich weiß, in den siebziger Jahren. Eine spezielle Freiburg-Verbindung existiert also nicht. Und das ist der Beweis: Für echte Kunst gibt es keine Zeit und keine Grenzen. Und keine Geografie. Für einen Weltmenschen spielt das alles keine Rolle.

ZEIT: Wozu müssen wir Weltmenschen wie ihn im Gedächtnis behalten? Man könnte auch sagen, eine große Interpretenpersönlichkeit, aber lange tot.

Sokolov: Als Pianist ist er nicht tot. Für die echte Kunst gibt es keine Zeit, wie gesagt. Wir können Gilels heute nicht mehr live erleben, leider, wie viele andere Große auch nicht. Aber tot ist er nicht.

Meine letzte, eher konspirative Begegnung mit Grigory Sokolov fand im Frühjahr in Hamburg statt (ZEIT Nr. 16/15) und hat mir dieses Interview eingetragen. Gehört habe ich ihn oft, und der Eindruck bestätigt sich auf der neuen CD: Im großen, klassisch-romantischen Repertoire (Beethovens »Hammerklavier«-Sonate) neigt Sokolov zum Zerlegen, Zelebrieren, als zöge er sich mitten im Zeitfluss auf unsichtbare Sandbänke zurück, um dort zu verharren. Kleineren Werke hingegen (alles von Rameau!) haucht er wie kein Zweiter Geist ein, Brillanz und Witz.

Sehen und hören Sie hier Grigory Sokolov mit Stücken von Schubert, Beethoven, Rameau und Brahms

ZEIT: Emil Gilels war eine Figur des 20. Jahrhunderts, er hat auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Erfolge gefeiert. Würde er heute noch so spielen, wie er gespielt hat?

Sokolov: Erfolge feiern nicht die Künstler, sondern die Zuhörer, die den Künstler mehr und mehr verstehen. Man spielt immer anders, jeden Tag. Das ist keine Frage des Jahrhunderts.

ZEIT: Trotzdem hat die Welt sich verändert, der Kapitalismus hat den Sozialismus »besiegt«, wir haben heute ganz andere Probleme. Hängen Kunst und Leben nicht zusammen?

Sokolov: Unsere Gedanken zum Weltgeschehen sind immer relativ. Die Musik aber ist immer modern. Weil Sie ein moderner Mensch sind und Sie die Musik hören. Es gibt keine musealen Interpretationen, das ist ausgeschlossen. Interpreten sind Interpreten ihrer Zeit, ob sie es wollen oder nicht, und die Zuhörer sind es auch.

ZEIT: Was passiert, wenn ich eine historische Aufnahme höre? Emil Gilels spielt Liszts h-Moll-Sonate zum Beispiel oder Griegs Lyrische Stücke, dann sind das doch Grüße aus der Vergangenheit.

Sokolov: Sehr schöne Grüße! Aber Sie sind es, die diese Aufnahmen hören, also sind sie heutig.Grigory Sokolov spricht nahezu perfekt Deutsch, mit einem sanft schnarrenden russischen Akzent. Trotzdem hat er auf einer Dolmetscherin bestanden, die, peinlich berührt, ebenfalls mit dabeisitzt.

Mozart direkt können Sie nicht hören, niemals. Sie hören nur Interpretationen

ZEIT: Ist es schwer, über Musik zu sprechen?

Sokolov: Es ist nicht schwer, es ist unmöglich – und das hat nichts mit mir zu tun. Wenn es möglich wäre, brauchten wir keine Musik.

ZEIT: Ich bin der moderne Mensch, wie Sie gesagt haben. Was höre ich, wenn Emil Gilels, sagen wir, Mozarts a-Moll-Sonate spielt? Höre ich: Gilels spielt Mozart, höre ich Mozart, oder höre ich nur Gilels?

Sokolov: Mozart direkt können Sie nicht hören, niemals. Sie hören, wie Gilels diese Musik interpretiert hat. Das heißt: auch nicht ganz, denn Sie hören nur, was Sie davon verstehen können. Ein komplizierter Vorgang.

ZEIT: Noch komplizierter wird es, wenn ich mir die gleiche Sonate von Swjatoslaw Richter gespielt anhöre. Aus westlicher Sicht waren Gilels und er Antipoden. Gilels galt als der Bodenständige, ein fulminanter Handwerker. In Richter hingegen sah man den Exzentriker und großen Subjektiven.

Sokolov: Falsch, absolut falsch. Was heißt subjektiv, was objektiv? Musik ist immer subjektiv. Außerdem halte ich es für keine gute Idee, zwei große Künstler miteinander zu vergleichen. Warum diese beiden? Was ist mit Wladimir Sofronitzki? Er ist nur zweimal im Ausland aufgetreten, einmal in Polen, einmal in Paris. Ist er deshalb unbedeutender? Nein! Einer schreibt etwas, andere plappern es nach – und was herauskommt, ist wiederholter Quatsch. Genauso verhält es sich mit Ost und West. Die Magie eines Künstlers kommt weder aus dem Osten noch aus dem Westen, sondern einzig aus ihm selbst.

ZEIT: Aber jede Persönlichkeit wird geprägt von den Lebensumständen, von der Luft, die er oder sie atmet, von der Herkunft, vom Essen und vom Trinken, von der Freiheit, sich zu entwickeln, von der Politik, der Liebe, von allem!Sokolov: Aber doch nicht deshalb ist jeder verschieden. Gilels und Sofronitzki zum Beispiel, das sind zwei andere Planeten.

ZEIT: Stehen sie sich nicht doch näher als Gilels und Claudio Arrau, Gilels und Wilhelm Kempff oder Gilels und Arturo Benedetti Michelangeli?

Sokolov: Woran wollen Sie das festmachen?

ZEIT: Maestro, jetzt treiben Sie mich ein bisschen zur Verzweiflung. »Selbst die jüngeren russischen Virtuosen spielen nicht modern, wie ein Gulda oder ein Glenn Gould es zu tun versuchen«, lese ich bei Joachim Kaiser. »Freilich sind sie auch nicht unschuldig altmodisch. (…) Grandezza, dividiert durch Prokofieffs Phantastik und pianistischen Charme: das wäre eine Formel für die Voraussetzungen von Emil Gilels.« Ein paar Seiten später nennt Kaiser ihn eine »Präzisionsmaschine«, betont seine »Vitalität«und »Gesundheit«.

Was ist besser, Beethoven oder Chopin? Beethoven hat neun Sinfonien geschrieben, Chopin keine einzige. Nun?

ZEIT: Wie lebendig ist die russische Klavierschule?

Sokolov: Es gibt keine russische Schule, jedenfalls nicht in der Musik. Was soll das sein? Steht Glenn Gould vielleicht für die kanadische Schule, existiert dieser Begriff? Nein.

ZEIT: Man spricht aber von der deutschen oder der französischen Schule und meint einen gemeinsamen Kern, eine Identität.

Sokolov: Wir sind wieder am Anfang: In der Musik gibt es keine Geografie. Wir werden mit Bach, Skrjabin, Rachmaninow und Beethoven geboren. Das ist unsere Musik. Wie kann man solche Genies bloß etikettieren? Was ist besser, Beethoven oder Chopin? Beethoven hat neun Sinfonien geschrieben, Chopin keine einzige. Nun?

ZEIT: Beethoven natürlich!

Sokolov: Nicht so eilig! Chopin hat 58 Mazurken geschrieben, Beethoven keine. Und jetzt? Doch lieber Chopin? Spaß beiseite: Jeder Künstler hat seinen Weg.

ZEIT: Welchen haben Sie?

Sokolov: Ich? Morgen nach Basel. Das Gespräch driftet etwas ab, man belustigt sich über den Schokoladenflügel, der kein Pedal, dafür aber die berüchtigten Bösendorfer-Tasten aufweist, 97 Stück, hinunter bis zum tiefen a. Sokolov ist ein Flügel-Verrückter, kennt die Seriennummern aller Steinways auswendig, die er jemals gespielt hat.

ZEIT: Wie wird man eine Künstlerpersönlichkeit?

Sokolov: Man wird so geboren, das sagte ich bereits. Begabung haben viele, Fleiß, Glück. Aber Persönlichkeiten sind selten, das ist etwas Besonderes. Schwer zu sagen: Ist alles determiniert, kann der Weg nur so und nicht anders verlaufen? Der Einfluss von außen ist jedenfalls gering. Die Persönlichkeit ist von Anfang an perfekt, man kann sie nicht »verbessern« oder von außen verändern.

ZEIT: Heißt das, Gilels hätte auch Mathematiker oder Herzchirurg werden können?

Sokolov: Wer weiß. Gilels hat seine Zukunft vorhergesehen. Schon als kleines Kind malte er mit Buntstiften ein Plakat, mit den Daten und dem Repertoire seines ersten großen Konzerts – am Ende hatte er sich nur um ein Jahr vertan.

ZEIT: Was kann man von solchen Genies lernen?

Sokolov: Keine Einzelheiten! Interessant ist die Verbindung zur Kunst. Und zum Leben. Das ist es, was für Ihren Weg wichtig sein könnte. Sie sehen diese Verbindung, oder Sie sehen sie nicht. Sie bekommen diese Energie und verwandeln sich oder nicht. Wenn Sie vor der Sixtinischen Madonna stehen und ihre Schönheit nicht sehen, kann Ihnen niemand helfen. Wer blind ist, ist blind, wer taub ist, ist taub. Da helfen auch keine Analysen.

ZEIT: Das klingt mystisch. Nehmen wir das »Regentropfen«-Prélude von Chopin …

Sokolov: Dieser Name ist Unsinn!

ZEIT: Der kranke Chopin auf Mallorca, es ist kalt, der Regen klatscht an die Fensterscheiben …?

Sokolov: Wichtig ist nicht der Regen, wichtig ist die Angst. Chopin hatte Todesangst. Das ließ sich natürlich nicht so gut verkaufen. Bei Schubert gibt es ähnliche Beispiele verlegerischer Willkür. Die fünfte Zugabe an diesem Abend ist jenes Prélude op. 28 Nr. 15 in Des-Dur. Sokolov spielt es aufreizend langsam, mit tiefschwarzem Schicksalshämmern – um am Schluss jeden Traum von Licht und Wärme in einer einzigen Note, dem finalen hohen B, zerplatzen zu lassen.

ZEIT: Wie verständigt sich ein Publikum über Chopins Magie, wenn es unmöglich ist, über Musik zu sprechen?

Sokolov: Man kann über seine persönlichen Empfindungen reden. Leider trauen sich das viele Menschen nicht. In der Kunst ist alles viel natürlicher, als man denkt. Es geht von selbst. Es existiert. Die Kunst ist ein Paralleluniversum zur Wirklichkeit.

ZEIT: Demnach berühren sich die beiden nicht?

Sokolov: Nicht direkt jedenfalls. So wie sich ein Werk niemals durch Biografie oder Politik erklären lässt. Kunst ist etwas Freies, das drinnen ist.

ZEIT: Haben wir jetzt eigentlich mehr über Emil Gilels gesprochen oder mehr über Sie?

Sokolov: Nur über Emil Gilels!! Ist mir das etwa nicht gelungen? Dann ist es der Fluch der Gattung – und mein persönliches Fiasko.

Sokolovs neue CD mit Werken von Schubert und Beethoven erscheint bei der Deutschen Grammophon.
 Informationen zum Festival vom 14.–19. März unter festival.emilgilelsfoundation.net

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