Die Wiener Philharmoniker und ihre NS-Vergangenheit

Das Gesicht der Wiener Philharmoniker, Vorstand Clemens Hellsberg, räumt den Platz des Primgeigers

VON HERBERT LACKNER

Noch einmal also die Eroica im Musikverein, dann Wagners Ring in der Staatsoper und Ende des Monats Die Zauberflöte.  Das war’s. Am 1. Februar tritt Clemens Hellsberg, im März wird er 64 Jahre alt, in den Ruhestand. Er geht »in die Rent’n«, wie man in Wien sagt. 40 Jahre lang war er im Orchester der Wiener Staatsoper und bei den Philharmonikern Primgeiger, 17 Jahre lang Vorstand des selbstverwalteten Orchesters. Er war das Gesicht des hoch angesehenen Klangkörpers. In seine Ära fällt auch eine entscheidende Auseinandersetzung, die wenig mit Musik, dafür aber viel mit Verantwortung zu tun hat: Erstmals konfrontierten sich die Musiker mit der Rolle, welche die Philharmoniker in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hatten. Hellsberg war 22 Jahre alt, als er unter Karl Böhm debütierte, dann folgte er dem Dirigat aller Großen dieser Zunft.

Jetzt ist das also bald vorbei, dennoch sitzt der Geiger vergnügt in der Kantine der Wiener Oper, wo sich allerlei Herrschaften aus Verdis Un ballo in maschera in voller Montur erfrischen. Trotz dieses herrlichen Trubels erweckt Hellsberg den Eindruck, als würde ihm das alles künftig nicht fehlen: diese Atmosphäre des Künstlerlebens, die bejubelten Neujahrskonzerte, die spektakulären Premieren am Ring, diese wunderbaren Sonntagvormittage im Musikverein, das dankbare Publikum auf den großen Tourneen, das solche berühmten Orchester ja nicht alle Tage zu hören bekommt. Als er sich im Vorjahr bei einem Sturz den Ellbogen zertrümmerte, rief ihn sogar der besorgte Bundespräsident im Krankenhaus an. Clemens Hellsberg ist vielleicht auch nur deshalb vergnügt, weil er immer vergnügt ist, wenn er über Musik spricht. Die Geige lege er ja nicht aus der Hand, in Zukunft werde er eben mehr Kammermusik spielen und das noch dazu mit seinen Söhnen, dem 33-jährigen Dominik, der schon seit neun Jahren bei den zweiten Geigen der Philharmoniker musiziert, und dem 21-jährigen Benedikt, der noch das Cellospiel studiert. Im April ist Clemens Hellsberg dann ja noch einmal auf der großen Bühne, wenn sein Freund Zubin Mehta seinen 80. Geburtstag mit Beethoven im Wiener Musikverein feiert. »Warum soll ich wehmütig sein? Ich habe mit den Philharmonikern so viel erlebt, da wäre Traurigkeit nicht angebracht«, sagt Hellsberg. Aber er zählt mit: Noch genau neun Opernabende hat er vor sich, bevor er seinen Spind räumen muss. Der Abschied von der Oper fällt ihm schwer. Das Spiel im Orchestergraben, dieses Eingehen auf die Sänger, das Aufeinanderhören – das hält Hellsberg für eine entscheidende Grundlage jedes Orchesters.  Bei den Wiener Philharmonikern kämen zwei weitere Besonderheiten hinzu. Zum einen hätten viele Ensemblemitglieder der einzelnen Instrumentengruppen denselben Lehrer gehabt. In seinem Fall war das der damals noch junge, aber schon gefeierte Primgeiger Alfred Staar. Hellsberg Sohn Dominik war einer der letzten Schüler dieses Violine-Professors.  Zum anderen seien bei den Wiener Philharmonikern Instrumente vertreten, die es in anderen Orchestern nicht gibt, etwa das Wiener Horn und die Wiener Oboe, zwei aus der Wiener Klassik hergeleitete Spezialinstrumente mit etwas hellerem Ton. Die Kombination aus all diesen Faktoren mache den viel gerühmten »Klang« der Wiener Philharmonie aus, meint Hellsberg. Schwer vorstellbar, dass dieser feinsinnige Sohn eines Musiklehrers mit eher schmalem Körperbau seine Wehrdienstzeit beim Jagdkommando des Bundesheers verbracht hat, einer wilden Rangertruppe, die für tollkühne Sondereinsätze trainiert. Wenn er schon zum Bundesheer gehen musste – Zivildienst gab es für seinen Jahrgang 1952 noch nicht –, dann wollte er wenigstens etwas erleben, das er auf seiner vorgezeichneten Musikerlaufbahn sicher nie mehr erleben würde.  Also sprang er an Fallschirmen baumelnd aus Flugzeugen, übte Kampftauchen und pirschte durch Österreichs wilde Bergwelt. Die Hälfte der Wiener Philharmoniker besaß in der NS-Zeit eine Parteimitgliedschaft. Weil das nicht genügte und ihm offenbar auch die Violine zu wenig war, studierte Hellsberg nebenher Musikwissenschaften und Alte Geschichte. Seine Dissertation schrieb er über den Violinisten Ignaz Schuppanzigh, einen engen Musikerfreund Ludwig van Beethovens. Als Hellsberg 1980 an der Wiener Universität zum Dr. phil. promoviert wurde, strich und zupfte er selbst schon seit Jahren die Violine bei den Philharmonikern. Und weil er Geschichte studiert hatte, machten ihn die Kollegen zum Leiter ihres historischen Archivs. Dann fasste Hellsberg 1991 einen Entschluss, der sein weiteres Berufsleben nachhaltig beeinflussen sollte:  Auf der Basis der im Orchesterarchiv gesichteten Unterlagen schrieb er eine 685 Seiten starke Geschichte der Wiener Philharmoniker (Die Demokratie der Könige), in der erstmals untersucht wurde, wie sich die Philharmoniker in der Zeit der NS-Diktatur verhalten hatten.

Zwischenbilanz

Erfolge2004 Open Air. Die Sommernachtskonzerte in Schönbrunn sind ein neuer Fixtermin im Jahr der Philharmoniker. Ihr Zustandekommen ist kurios. 1998 hatte das Staatsopernorchester als Gegenleistung für eine Gagenerhöhung der Republik eine Serie von Gratiskonzerten zugesagt. Das letzte Konzert dieser Serie wurde im Hof von Schloss Schönbrunn angesetzt. Seither veranstalten die Philharmoniker die Sommernachtskonzerte auf eigene Rechnung. Sehen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker von 2013;  unter der Leitung von Lorin Maazel spielen sie  »Wiener Blut«

2008 Sponsor»Begegnung mit einem Mythos« nennt Hellsberg in seinem neuen Buch die Sponsorenverhandlungen mit der Schweizer Uhrenfirma Rolex, der führenden Marke im Luxusuhren-Segment. Im Februar 2008 wurde der erste Vierjahresvertrag abgeschlossen, der seither erneuert wurde. Rolex hatte zuvor etwa Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, Tiefseetaucher Jacques Piccard und den Rekordpiloten Chuck Yeager unterstützt. Musiksponsoring war für die Schweizer Neuland. 2013 Gesundheit: Vor zwei Jahre stürzte der Geiger auf dem Weg von seiner Wohnung zur Straßenbahn und zertrümmerte sich den linken Ellenbogen. Ärztliche Kunst und ausgeklügelte Physiotherapie sorgten dafür, dass Hellsberg wieder spielen kann. Den Arm ausstrecken kann er allerdings bis heute nicht.

Misserfolge1992 Vergangenheit In seinem Buch »Die Demokratie der Könige« über die Geschichte der Wiener Philharmoniker beleuchtete Clemens Hellsberg erstmals auch die Rolle des Star-Orchesters in der NS-Zeit.  Die Hoffnung, dass damit alles gesagt sei, erfüllte sich nicht. Nach und nach tauchten weitere Fakten auf – bis heute. Kritiker werfen Hellsberg vor, er habe unangenehme Dinge verschwiegen, was dieser heftig dementiert. 2014 Abschied Hellsberg wäre wohl noch gerne länger Vorstand des renommierten Orchesters geblieben, wollte aber eine Verlängerung der »Amtsperiode« von drei auf sechs Jahre, um einige größere Projekte durchzuführen. Das wurde nicht akzeptiert. Eine Kampfabstimmung gab es jedoch nicht.

Das war nicht ruhmreich: 50 Prozent der Musiker waren NSDAP-Mitglieder gewesen (Berliner Philharmoniker: 15 Prozent). Sieben Orchestermitglieder wurden ermordet oder starben aufgrund der Verfolgung. Neun gelang die Flucht ins Ausland. Die Nazis machten den Kontrabassisten Wilhelm Jerger zum Orchestervorstand. Der war seit 1932 illegales NSDAP-Mitglied und SS-Mann. 1945 wurde er aus dem Orchester ausgeschlossen. Später war er Leiter des Bruckner-Konservatoriums des Landes Oberösterreich. Noch bemerkenswerter ist der Fall des Trompeters Helmut Wobisch, der schon am NS-Putsch im Juli 1934 teilgenommen hatte. Wobisch leitete die Bläserausbildung der Wiener Hitlerjugend und bespitzelte im Auftrag der Gestapo andere Orchestermitglieder. Nach 1945 suspendiert, kehrte er schon 1950 wieder ins Orchester zurück und wurde 1953 sogar Geschäftsführer. Die statutengemäß dafür notwendige Befreiung von den Sühnefolgen durch den Bundespräsidenten wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – Wobisch gerierte sich als »Judenretter« – ganz presto eingeholt. 1969 gründete er den Carinthischen Sommer, dessen Intendant er bis zu seinem Tod 1980 war. Mit der Kärntner SPÖ verstand sich Wobisch prächtig. Als Hellsberg 1992 sein Buch veröffentlichte, hatte die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich gerade erst begonnen, der Fall Waldheim war der entscheidende Anstoß dafür gewesen. Wenn danach neue Details über das Orchester in der NS-Zeit auftauchten, wurde Hellsberg stets vorgeworfen, er habe diese in seinem Buch verheimlichen wollen.  Aber das sei falsch, beteuert der Autor: »Damals gab es noch keine Provenienzforschung und auch kein Internet. Natürlich haben wir viele Sachen einfach nicht gewusst.«

Erst 2011 etwa trug Zeitgeschichte-Professor Oliver Rathkolb bisher unbekanntes Material über die von den Nazis ermordeten und vertriebenen Orchestermitglieder zusammen. Hellsberg, damals noch Vorstand der Philharmoniker, beauftragte daraufhin eine vierköpfige Historikergruppe unter der Leitung von Rathkolb damit, die Dokumente für die Website des Orchesters aufzubereiten. Diese liest sich heute wie ein zeithistorisches Seminar: Kaum eine andere Institution des Landes hat Dutzende von Seiten im Internet ihrer NS-Vergangenheit gewidmet. Einer der von Hellsberg eingesetzten Experten, der Historiker Fritz Trümpi, schreibt in seinem Beitrag, es habe in Wahrheit schon am 1. Jänner 1939 ein Walzerkonzert der Philharmoniker gegeben. Die Behauptung, ihr jüngstes Neujahrskonzert sei das Siebzigste gewesen, sei daher falsch. Der Topos Musikstadt Wien habe »der Etablierung und Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Wien gedient«, so Trümpi. Eine Theorie, über die man streiten kann: Haben die Philharmoniker durch das Spielen von Walzermusik dem NS-Regime geholfen oder vielleicht doch eher ein Stück Österreich in diese neue Zeit hinübergerettet? Oder haben sie einfach nur Musik gemacht? Erwartungsgemäß griff der ehemalige Staatsoperndirektor Ioan Holender den von Trümpi hochgegaberlten Ball auf. »Es hilft nichts, Geschehenes zu verschweigen«, donnerte der ehemalige Bariton rechtzeitig vor dem diesjährigen Neujahrskonzert in einem Interview. Zuvor hatte er gemurrt, er habe von Hellsberg »nie einen positiven Willen« gespürt, »ohne Zwang Licht in die Vergangenheit der Philharmoniker zu bringen«. Zu behaupten, Holender sei mit seinem Staatsopernorchester, also mit den Philharmonikern und vor allem dessen Vorstand Clemens Hellsberg, nicht zurechtgekommen, ist eine lächerliche Untertreibung. In dieser Beziehung war nie Musik, und am Ende ging einfach gar nichts mehr. Hellsberg will den Inhalt der Kritik nicht verstehen: »Warum ist man überrascht, dass sich ein totalitärer Staat aller seiner Einrichtungen bedient hat? Das sagt ja schon das Wort totalitär.« Überdies hätten die Philharmoniker bereits Walzer gespielt, als von den Nazis noch lange keine Rede war. Würde Hellsberg wegen der Kritik Holenders des Trostes bedürfen, dann wäre die ihm vor drei Jahren von der Israelitischen Kultusgemeinde verliehene Torberg-Medaille ein Übermaß davon. Die Laudatio hielt damals Zubin Mehta. Nur Lobendes weiß auch Holenders Nachfolger Dominique Meyer über den scheidenden Primgeiger seines Opernorchesters zu sagen: »Wir waren von Beginn an Freunde, und ich habe in der Zusammenarbeit mit ihm nur Freude erlebt. Mir haben auch seine Reden gefallen. «Mit Anton Bruckners 8. Symphonie stürzte er sich in Gedanken die Streif hinunter. Hellsberg schreckte tatsächlich selbst vor tollkühnen rhetorischen Abenteuern nicht zurück. Beim vorjährigen Hahnenkammrennen lud ihn der Ski Club Kitzbühel zu einer Festrede ein. Hellsberg (»Ich war nie ein guter Skiläufer«) verglich darin jeden Streckenabschnitt der Streif mit den Sätzen in Anton Bruckners anstrengender 8. Symphonie: das Fahrtwegnehmen, das Schwungausnützen, den Kampf um Hundertstelsekunden da, um Millimeter auf der Violinsaite dort. Bloß gegen Ende sei es anders: Der Skiläufer sei an der Hausbergkante erschöpft, ihm sei alles abverlangt worden. »Aber wenn der Musiker nach eineinhalb Stunden Bruckner bei der Coda angelangt ist, da gibt es keine Müdigkeit, dann wird man von dieser schönsten Musik ebenso ins Ziel getragen wie von der eigenen Begeisterung. «Ein derart Begeisterter lässt jetzt einfach los? Loslassen hat er kürzlich jedenfalls geübt. Um noch einmal die Silvester-Fledermaus in seiner geliebten Oper spielen zu können, ersuchte er um Entbindung vom Höhepunkt im Philharmoniker-Jahr: vom Neujahrskonzert.